Freitag, 27. August 2021

Kommen jetzt die Flüchtlinge?

Kaum hatten die Taliban die macht übernommen gab es bereits die Sorge um einen neuen Flüchtlingsstrom und die Forderung, dass sich 2015 darf nicht wiederholen darf.
Die Spekulationen wurden auch von Innenminister Horst Seehofer angeheizt, der die Zahl von fünf Millionen in die Welt gesetzt hat. Ein Artikel in der ZEIT zeigt, dass in jedem Fall vor allem die Nachbar-länder betroffen sein werden.
 

Kommen jetzt alle zu uns?

Der Migrationsexperte Knaus geht davon aus, dass es keine Massenflucht nach Europa geben wird. "2015 war die Grenze von Syrien in die Türkei offen, die Grenzen von der Türkei nach Europa waren offen. Das ist jetzt in Afghanistan ganz anders."

Nachbarländer bereits stark belastet

Nach Angaben des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) leben in Pakistan heute bereits 1,4 Millionen afghanische Flüchtlinge, im Iran sind 780.000 Afghanen als Flüchtlinge registriert; die Dunkelziffer dürfte viel höher sein. 2,5 Millionen Afghanen leben laut UNHCR ohne gültige Papiere im Iran. Besonders betroffen ist die Türkei: Hier leben bereits über 3 Millionen Syrer und über 100.000 Afghanen.

Das Drama geht weiter

Die Nachbarländer haben ihre Grenzen geschlossen, auch die Stimmung in den Ländern wendet sich zunehmend gegen weitere Flüchtlinge. Die Europäer haben versprochen, den Ländern bei der Aufnahme zu helfen. Damit wäre zumindest eine Lehre von 2015 gezogen, in anderen Bereichen ist dies noch nicht der Fall, so ist die EU weiterhin weit von einer gemeinsamen Asylpolitik entfernt. Bei allen Unsicherheiten ist aber, dass das Drama weiter geht.

Aufnahme von Afghanen im Westen

Darüber hinaus fordern einige, dass die europäischen Staaten Afghanen aufnehmen sollten. Bereits im Gange ist der Versuch Ortskräfte und besonders gefährdete Menschen rauszuholen. Andere fordern darüber hinaus Aufnahmeprogramme. Bascha Mischka schreibt dazu in der Frankfurter Rundschau   treffend: „Wenigstens das sind wir den Menschen in Afghanistan schuldig“.

Donnerstag, 26. August 2021

Ein neuer Blick auf Afghanistan durch Emran Feroz (und Markus Lanz)

In der Diskussionsrunde von Markus Lanz am 25. August ging es um Afghanistan. Der beeindru-ckendste Auftritt war von Emran Feroz, einem in Österreich geborene Sohn afghanischer Eltern ist Journalist und Autor. Über diese denkwürdige Sendung berichtete unter anderem Marko Schlichting in NTV.

Haben die Taliban ein ehrliches Justizsystem?

Bei der Abstimmung über den Rettungseinsatz der Bundeswehr im Bundestag haben sich die meisten Linken enthalten. Darüber kann man streiten, wie aber Markus Lanz versuchte, die Linken-Vorsitzende als Taliban-Unterstützerin darzustellen, war selbst dem Journalisten Robin Alexander zu viel. Weiter ging es mit Zitat, das eine Linken-Untergruppe geteilt hat, das aber von etablierten Wissenschaftler Nancy Lindisfarne und Jonathan Neale stammt:

„Entscheidend ist, dass die Taliban in den von ihnen kontrollierten ländlichen Gebieten ein ehrliches Justizsystem betrieben haben. Ihr Ruf ist so gut, dass sich viele Menschen, die in den Städten in Zivilprozesse verwickelt sind, darauf geeinigt haben, dass beide Parteien sich an Taliban-Richter auf dem Land wenden. Dies ermöglicht ihnen eine schnelle, billige und faire Rechtsprechung ohne hohe Bestechungsgelder."

Drogenbarone und korrupte Warlords

Während sich Wissler distanzierte, bestätigte Emran Feroz die These und beschrieb das Treiben der Regierung:

"In den letzten 20 Jahren haben sich westliche Kräfte in Afghanistan mit korrupten Drogenbaronen, Warlords und anderen fragwürdigen Personen verbündet - und sich gleichzeitig Demokratie, Menschenrechte und all diese Dinge auf die Fahnen geschrieben … "Diese Menschen in Afghanistan wollten nie eine demokratische Gesellschaft aufbauen. Sie haben alle Institutionen ausgehöhlt und sich persönlich bereichert. Die standen den Taliban in nichts nach." Westliche Regierungen hätten "mit Koffern voller Geld" versucht, korrupte Politiker zu kaufen, statt sie als Kriegsverbrecher anzuklagen“.

Krieg gegen den Terror nicht erfolgreich

Auch die These, dass mit der Tötung von Bin Laden der Kampf gegen den Terror erfolgreich gewesen sei, weist Feroz überzeugend zurück: Die Terrororganisation Al-Qaida hat sich auf weitere Länder ausweiten könne. Die Taliban waren ein fester Teil der politischen Landschaft. Außerdem beklagte er, wie auf Kosten afghanischer Menschen in den westlichen Ländern Wahlkampf gemacht wird.
Ich stimme der Analyse von Marko Schlichtung zu – auch mir hat der Auftritt von Feroz ein neues Bild auf Afghanistan gegeben.

Der längste Krieg

Die Süddeutsche Zeitung ist voll des Lobs über das Buch „Der längste Krieg“ von Emran Feroz, obwohl dies durch den Fall Kabuls bereits überholt ist.
Er schildert das leid, bei den Menschen erzeugte, die sie vermeintlich befreien wollten: Durch willkürliche Drohnenangriffe und nächtliche Razzien, durch systematische Folter und verbrecheri-sche Übergriffe und Morde seitens Soldaten aus dem Westen und der von ihm aufgebauten lokalen Anti-Terroreinheiten.

Mittwoch, 25. August 2021

Über harsche Urteile, vermeintliche Experten und eklige Tweets

Sascha Lobo beschreibt in einem Artikel Hilflose Übersprungswut die Reaktionen in sozialen Medien auf die Ereignisse in Afghanistan

Zu harsche Reaktionen gegen deutsche Politiker

Lobo hat zwar Verständnis für die harschen Reaktionen gegen den Westen, kritisiert aber die „gigantische Hasswut“ gegen deutsche Politiker als hätten Armin Laschet, Heiko Maas oder Annegret Kram-Karrenbauer persönlich die Scharia eingeführt. Er kritisiert auch, dass ohne verlässliche Informationen Urteile gefällt wurden.

Drama Surfing

Die übertriebenen Reaktionen nennt Drama-Surfing: Ähnlich wie beim Agenda-Surfing geht es darum, die eigenen Themen bei aktuellen Ereignissen hochleben zu lassen und damit den ursprüng-lichen Anlass herabzuwürdigen
Den Preis für den ekligsten Afghanistan-Tweet hat sich der frühere griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis verdient. Er bejubelte die Niederlage des liberal-neokonservativen Imperialismus. Immerhin seine Gedanken sind bei den Frauen mit der Aufforderungen „Haltet durch“ – zynischer geht es kaum. Aber Lobo erwähnt auch positive Beispiele, so twitterte der CDU-Abgeordnete Roderich Kiesewetter, dass es ein Fehler war, den Antrag der Grünen zur Evakuierung afghanischer Hilfskräfte im Juni aus Prinzip abzulehnen. 

 

Plötzlich wissen alle alles über Afghanistan

Aber es sind nicht nur Prominente, die sich äußern, viele Menschen haben sich ganz plötzlich zu Afghanistan-Experten gemausert, wie Stefan Kuzmany in seiner Kolumne im SPIEGEL vom 20. August beschreibt: Ähnlich wie bei der Corona-Pandemie Menschen spontane Kenntnisse über die Gefährlichkeit des Virus und die Effektivität von Gegenmaßnamen gewonnen haben, wissen nun alle „was wann wie am Hindukusch längst hätte geschehen sollen, um das aktuelle Desaster zu verhindern.“

Dienstag, 24. August 2021

Afghanistans Nachbarn - zwischen Angst und Pragmatismus

Wie reagieren die Nachbarn auf die Machtübernahme. Mit dem Titel „Zwischen Angst und Pragma-tismus“ bringt es eine Dokumentation auf ARTE auf den Punkt.

Afghanistans Nachbarn: Zwischen Angst und Pragmatismus

Der Erklärfilm zeigt die Reaktion der Nachbarländer auf die Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15. August 2021. „Zwischen wirtschaftlichen Interessen und der Angst, Afghanistan könne erneut zur Hochburg terroristischer Vereinigungen werden, suchen die Anrainer das Gespräch mit der radikalislamischen Terrormiliz

Freude über Niederlage der USA; Angst vor dem Islamismus

Artikel im Stern und im Deutschlandfunk geben einen Überblick. Alle Länder eint die Furcht vor den Flüchtlingen und dem Islamismus, einige freuen sich über die Niederlage der USA.

China freut sich über die Niederlage des Rivalen USA und hat mit den Taliban Kontakte aufgenom-men, bevor sie die Macht übernommen haben. Afghanistan verfügt über Kohle, Gas, seltene Erden, Lithium, Eisen, Kupfer und Gold. Die Taliban könnten durch den Verkauf Einnahmen erzielen, die Chinesen den Rohstoffbedarf decken. Sorgen macht sich Peking aber über den islamistischen Extremismus.

Ähnlich sieht es in Russland aus. Die Freude über die Niederlage der USA mischen sich Sorgen um den Einfluss des extremistischen Islamismus. Ähnliche Sorgen haben auch die ehemaligen Sowjetrepubliken Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan.

Auch im Iran ist die Freude gemischt: Einerseits ist der Erzfeind USA weg, andererseits sind die Taliban Sunniten damit ein Gegner des schiitischen Irans

Die Türkei hatte bereits vor dem Siegeszug der Taliban angeboten, den internationalen Flughaften  sichern – inwiefern dies noch möglich ist, bleibt offen.

Für Pakistan sind die Taliban Instrument der eigenen Außenpolitik, sie haben sie jahrelang gefördert. Andererseits könnten sich Radikale im eigenen Land ermutigt führen, die Regierung und das mächtige Militär herauszufordern.

Indien gehörte zu den größten Geldgebern in Afghanistan und hat sich außenpolitisch zurückgehal-ten. Neben dem Erzfeind Pakistan verschlechtern sich die Beziehungen zu China.

Montag, 23. August 2021

Afghanistan - Das Versagen des Westens

Bei einem Hauptschuldigen und dem Verlierer der aktuellen Entwicklung sind sich die Beobachter einig – die Amerikaner und ihre Verbündeten, die vom planlosen Anfang bis zum überstürzten Ende des Einsatzes vieles falsch gemacht haben.

Es ist zum Schämen

Stefan Braun wirft der Bundesregierung in der Süddeutschen Zeitung Versagen vor: "Die monatelange Zögerlichkeit beim Umgang mit den sogenannten Ortskräften, das absurde Unvorbereitetsein auf den Vormarsch der Taliban und das lähmende Warten darauf, dass endlich drei Bundeswehrflieger aufbrechen, um Botschaftsangehörige, andere deutsche Staatsbürger und Ortskräfte aus dieser lebensgefährlichen Situation herauszuholen - es ist nichts anderes als ein kollektives Regierungsversagen."

Aus der Traum

Samiha Shafy kritisiert in der ZEIT „Aus der Traum“ das Versagen der USA. Dies sei noch schlimmer als Vietnam, denn damals war und blieb die USA die unumstrittene Führungsmacht des Westens und ging später als Sieger des kalten Kriegs hervor, heute ist die USA eine „um sich selbst kreisende, wankende Weltmacht“
Biden sieht sie als Vollstrecker der Trumpschen Politik – „Spätestens jetzt dürfte die Hoffnung vieler Transatlantiker zerstört sein, Trumps Präsidentschaft könnte nur eine Verirrung gewesen sein.“ Vom Scheitern profitieren werden Islamisten, der Iran, Russland und nicht zuletzt China. Der Vertrauensverlust ist groß: „Wer sich auf den Westen verlässt, wird verraten."

Auch die Afghanen haben eine historische Chance vertan

Ulrich Ladurner  verweist ebenfalls in der ZEIT darauf, dass auch die Afghanen Schuld am Debalkel haben. „Bei allen Fehlerv war es dem Westen ernst mit Afghanistan“ betont er. Allein die USA haben über zwei Billionen Dollar ausgegeben. Letztlich kann der Westen einer Gesellschaft eine Freiheit nicht aufzwingen, die sie selbst nicht haben will.
 

Joe Biden als Vollstrecker einer irren Idee

In der Ausgabe der ZEIT kommt auch Norbert Röttgen zu Wort , der in der Verhandlungen mit den Taliban einen entscheidenden Fehler sieht. Donald Trump hatte das Abzugsdatum mitgeteilt: „So hatten die Taliban niemals einen Grund, überhaupt zu verhandeln. Sie mussten nur dasitzen und abwarten.“ Joe Biden ist nun der Vollstrecker dieser irrsinnigen Strategie. Die Europäer hingegen haben es nicht geschafft, die Amerikaner von diesem Vorgehen abzubringen – und konnten dies auch nicht.

 

Die Taliban in Kabul 

ARTE berichtet in der bedrückenden Dokumentation Die Taliban in Kabul über Menschen, die für die internationalen Truppen gekämpft haben und bitter enttäuscht wurden. Vor allem das Verhalten der Deutschen ist eine Schande: 22.000 Liter Bier wurden ausgeflogen, die Ortskräfte wurden immer wieder vertröstet. Für viele ist es jetzt zu spät – unzählige verzweifelte Menschen und noch mehr gebrochene Versprechen bleiben zurück.  
Die Dokumentation ist bis August 2022 auf ARTE und YouTube zu sehen: 


Sonntag, 22. August 2021

Wie konnte es zum schnellen Sieg der Taliban kommen?

Die meisten Autoren sind sich einig, dass es nicht so sehr die Beliebtheit der Taliban war, sondern die Unbeliebtheit und das Versagen. Zu den vielfältigen Fehlern des Westens folgt ein eigener Beitrag, hier erwähne ich einige Artikel, die mir das Verständnis erleichtert haben:

Armee ohne Glauben

Joachim Käppner fasst in der Süddeutschen Zeitung die Probleme der Armee passend zusammen. Die Armee litt „stets unter Rekrutenmangel, Vetternwirtschaft bei der Besetzung hoher Kommandoposten, internen ethnischen Spannungen und schlechter Bezahlung. Ein erhebli-cher Teil der neuen Soldaten kehrte gleich nach dem ersten Heimaturlaub nicht mehr zurück. Die Soldaten waren oft schlecht ausgerüstet, nicht selten litten sie zeitweilig sogar an Hunger, mit allen Folgen solcher Missstände für die Moral vieler Einheiten.“

Korrupte Zentralregierung und kriminelle Warlords

Die Titelgeschichte des SPIEGELS vom 21. August 2021 listet eindrucksvoll auf, dass Korruption und Misswirtschaft für den ganzen Staat galt. Warlords, die für viel Leid verantwortlich waren, kamen an die Schaltstellen der Macht, Wahlbetrug und Vergehen des Präsidenten Karzais wurden verschwiegen
Im Essay von Christian Neef wird ein Dorfrat zitiert dessen Einschätzung stellvertretend für viele stehen dürfte: "Der Westen ist gekommen, um sich selbst zu helfen. Es geht um das Geld nicht wegen unserer Armut, sondern aus Angst vor den Terroristen.“

Unter den neuen Herren

Andreas Böhm verweist in der ZEIT  darauf, dass die Taliban von der Wut über das Staatsversagen profitierten. Sie entwickelten trotz militärischer Rückschläge und interner Fraktionskämpfe rasch eine effektive strategische Mischung aus Terror, Verhandlungen und Lockmitteln. Durch die Eröffnung eines Verhandlungsbüros in Katar sind sie seit 2013 salonfähig geworden.
Böhm verweist auf einen weiteren Aspekt: Rund zwei Drittel der geschätzten 37 Millionen Afghaninnen sind jünger als 25. Sie sind oft unter Kriegsbedingungen und mit einem gehörigen Misstrauen gegenüber westlichen Versprechungen aufgewachsen.

Samstag, 21. August 2021

Die Tragödie in Afghanistan - ein Überblick

Zeitungen und Internetseiten sind voll mit Berichten über den Verlauf und die Gründe für die Tragödie in Afghanistan. Über einige dieser Artikel möchte ich in diesem und weiteren Blogeinträgen berich-ten. Ich beginne mit einem Überblick über das Land.

Afghanistan – Kriege und das Scheitern von Großmächten  

Die Amerikaner und ihre westlichen Verbündeten sind in der Geschichte die dritte Großmacht, die in Afghanistan gescheitert sind. Die Briten führten mehre Kriege bis zur Unabhängigkeit Afghanistans, die Sowjetunion zog sich 1988 zurück – fast zehn Jahre nach dem Einmarsch. Der Krieg ging weiter, nachdem die Taliban die Macht erringen konnten, wurde diese nach dem Einmarsch der Amerikaner 2001 beendet.

Informationen über die Geschichte

Die Bundeszentrale für politische Bildung berichtet in einem Dossier über Geschichte und das Land, spannend ist auch die Geschichte in historschen Bildern, die National Geographic zur Verfügung stellt.
Einen kompakten Überblick über die jüngere Geschichte bietet SWR 3.


ARTE-Doku über Afghanistan 

In der Reihe Mit offenen Karten gibt es auf Arte eine interessante Dokumentation über Afghanistan. Darin geht es auch um die komplexe Geschichte und den fast beinahe permanenten Kriegszustand: Die Kolonialkonflikte zwischen Großbritannien und Russland, den Einmarsch der Sowjektunion und zuletzt die Invation durch die USA.